Der neuerliche Lockdown ist seit 3.11.2020 in Kraft und soll durch weitreichende Einschränkungen der Freizeit- und Sozialkontakte helfen, die Infektionsraten wieder auf ein kontrollierbares Ausmaß zu senken. Schon davor wurde fast ganz Österreich auf der COVID-19 Ampel auf „Rot“ gestellt. Die Schulen und Kindergärten bleiben hingegen geöffnet, ebenso die meisten Geschäfte. Wie geht es vor diesem Hintergrund im von Corona geprägten Herbst und Winter 2020 an den Zivil- und Strafgerichten weiter?
1. Keine zusätzliche gesetzliche Einschränkung des Gerichtsbetriebs
Anders als beim ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr erfolgt keine weitestgehende Einschränkung des Gerichtsbetriebs durch eine Änderung der Geschäftsordnung der Gerichte I. und II. Instanz. Die jüngste COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung des Gesundheitsministers bringt zwar insbesondere nächtliche Ausgangsbeschränkungen, schließt Gerichtsverhandlungen aber nicht per se aus.
Sehr wohl gelten aber weiterhin Beschränkungen, die eine Verbreitung von COVID-19 an den österreichischen Gerichten verhindern soll. Insbesondere gelten die Gerichte als „öffentliche Orte in geschlossenen Räumen“, sodass verpflichtend ein Abstand von mindestens einem Meter zu haushaltsfremden Personen einzuhalten und ein eng anliegender Mund-Nasen-Schutz zu tragen ist. Gesichtsvisiere haben daher – wie kürzlich in der Gastronomie – nun auch bei den Gerichten ausgedient.
Diese Regelung erschwert zwar die Kommunikation zwischen Klient und Rechtsanwalt im Gerichtssaal deutlich, weil ein vertrauliches Gespräch während der Verhandlung kaum möglich ist. Für sich betrachtet bliebe eine annähernd normale, persönliche Verfahrensführung in den Gerichten aber im zweiten Lockdown weiterhin zulässig.
Im täglichen Betrieb der Zivilgerichte ist jedoch aufgrund anderer Erwägungen (weiterhin) mit Verzögerungen zu rechnen:
Hauptgrund für die derzeit vorkommenden Verzögerungen ist der Mangel an ausreichend großen Verhandlungssälen, in denen die notwendigen Abstände zwischen den teilnehmenden Personen eingehalten werden können. Dieses Problem stellt sich etwa bei umfangreichen Beweisaufnahmetagsatzungen, an denen eine Vielzahl von Personen teilnimmt, oder in Verfahren, in denen einander mehr als zwei Parteien (und deren Vertreter) gegenüberstehen. Aufgrund dieser geringeren Verfügbarkeit an nutzbaren Verhandlungssälen können Richter derzeit in vielen Fällen nur noch einen Halbtag (anstatt üblicherweise 1,5 bis 2 Tage) pro Woche verhandeln.
Ein weiterer Grund liegt in der im Vergleich zur „allgemeinen“ Corona-Ampel und der „Bildungsampel“ speziell für Schulen weniger prominenten „Justizampel“. Diese wurde durch Erlässe der regional zuständigen Präsidenten der Oberlandesgerichte kommuniziert und richtet sich an deren nachgeordnete Dienststellen. Der einschlägige Erlass für Wien, Niederösterreich und Burgenland (Bereich des Oberlandesgericht Wien) sieht etwa vor, in der derzeit „roten“ Ampelphase einen Schichtbetrieb an den Gerichten umzusetzen und enthält auch die explizite Empfehlung an die Rechtsprechungsorgane, alle Verhandlungen, bei denen das möglich ist, im Wege von Videokonferenzen abzuhalten.
Da die Unabhängigkeit der Rechtsprechung natürlich auch in der derzeitigen Phase rechtlich unangetastet bleibt, obliegt die Entscheidung über den Ablauf von Gerichtsverhandlungen aber trotz dieser ausdrücklichen Empfehlung letztlich den jeweils zuständigen Richterinnen und Richtern. In Einzelfällen sind daher auch durchaus kreative Lösungen möglich: So werden in dringenden Angelegenheiten (zB in EV-Verfahren) mündliche Verhandlungen auch in den Räumlichkeiten von Anwaltskanzleien abgehalten, wo größeres Platzangebot besteht als bei manchen Gerichten.
2. Verstärkte Abhaltung von Videokonferenzen in Zivilverfahren
Auch wenn physische Verhandlungen daher zulässig bleiben, ist angesichts der allgemeinen Empfehlung und der Pandemie-Entwicklung davon auszugehen, dass viele Verhandlungen im Herbst und Winter 2020 entweder gänzlich abberaumt oder aus den Gerichtsgebäuden in die digitale Sphäre verlegt werden.
Bezüglich der Abhaltung von digitalen Tagsatzungen gilt weiterhin die Regelung in § 3 des 1. COVID-19 Justiz-Begleitgesetzes, wonach bis zum 31.12.2020 Verhandlungen auch rein „digital“ abgehalten werden können. Bis auf Exekutions- und Insolvenzsachen und weitere Nebenbereiche (zB Erwachsenenschutz) ist dafür aber eine Zustimmung aller Parteien des Verfahrens erforderlich. Auch andere Verfahrensbeteiligte (insbesondere Nebenintervenienten, Zeugen, auch Sachverständige oder Dolmetscher) können zudem verlangen, dass sie auf digitalem Weg einvernommen bzw beigezogen werden, wenn sie eine erhöhte Gesundheitsgefährdung durch COVID-19 für sich oder für Personen, mit denen sie in notwendigem privaten oder beruflichen Kontakt steht, bescheinigen.
Dass die Abhaltung digitaler Tagsatzung per se gut funktioniert zeigten die letzten Monate: So können Parteien selbst schriftlich vorbereitete Vorbringen oder Urkundenerklärungen erstatten, in dem diese ganz einfach kurz vor oder in der Tagsatzung per E-Mail an Gericht und Gegner übermittelt werden. Selbiges gilt für im Zuge der Verhandlungen neu vorgelegte Urkunden. Abgesehen davon hat die Durchführung digitaler Verhandlungen natürlich auch andere Vorteile. So ersparen sich Parteien und deren Anwälte etwa die Wegzeiten zu den Gerichten.
Allerdings zeigte sich – vor allem bei Beweisaufnahmetagsatzungen – auch, dass eine notwendige allseitige Zustimmung der Parteien in den meisten Fällen nicht abgegeben wird. Es ist daher davon auszugehen ist, dass es trotz der Möglichkeit zur Abhaltung von digitalen Verhandlung auch in Zukunft zu Verzögerungen kommen wird.
Aus heutiger Sicht erscheint es jedenfalls notwendig, dass die zeitliche Befristung über den 31.12.2020 hinaus ausgedehnt wird, weil eine Rückkehr zum normalen Gerichtsbetrieb auch nach dem Jahreswechsel nicht realistisch erscheint. Dazu wird ein neuerlicher Gesetzesbeschluss erforderlich sein, weil die gesetzliche Verordnungsermächtigung zugunsten der Justizministerin in § 8 1. COVID-19 Justiz-Begleitgesetz die Regelung in § 3 nicht erfasst. Demnach könnte die Justizministerin zwar die neuerliche allgemeine Unterbrechung von Fristen anordnen, aber nicht ohne Gesetzesänderung eine rechtliche Grundlage für Online-Gerichtsverhandlungen ab 1.1.2021 schaffen.
Wenn somit schon Hand an das Gesetz gelegt werden muss, sollte dabei zumindest in vorbereitenden Tagsatzungen oder sonstigen Tagsatzungen ohne Beweisaufnahmen auch das Zustimmungserfordernis überdacht werden. In der derzeitigen Form, die sichtlich für einen eher kurzen Übergangszeitraum während des Frühjahrs gedacht war, bietet die Regelung durch das begründungslose Veto-Recht zu großes Verzögerungspotential für unkooperative Verfahrensbeteiligte. Das trifft Parteien besonders, deren Rechtsschutzanspruch durch die faktischen Verzögerungen aufgrund von COVID-19 ohnedies bereits stark beeinträchtigt wurde.
3. Auswirkungen auf Verfahrensfristen in Zivilsachen
Im ersten Lockdown wurde eine Unterbrechung prozessualer Fristen beschlossen, die zu einem Neustart der meisten prozessualen Fristen am 1. Mai 2020 geführt hat (Details siehe https://bit.ly/34SCu0C). Eine vergleichbare Regelung wurde für den zweiten Lockdown bislang nicht beschlossen. Denkbar ist, dass die Justizministerin von ihrer diesbezüglichen Ermächtigung Gebrauch macht und eine neuerliche Unterbrechung verordnet.
Ganz unabhängig von der Pandemie werden gemäß § 222 ZPO zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Jänner die Notfristen im Berufungs- und Revisionsverfahren sowie im Rekurs- und Revisionsrekursverfahren gehemmt. Verglichen mit der Unterbrechung nach dem 1. COVID-19 Justiz-Begleitgesetz ist der Anwendungsbereich dieser Regelung jedoch deutlich eingeschränkter, insbesondere gibt es keine Fristenhemmung in erster Instanz. Es ist also – anders als im ersten Lockdown – bei Erhalt einer Klage nicht möglich, die gewöhnliche vierwöchige Frist verstreichen zu lassen und sich auf die COVID-bedingte Ausnahmesituation zu stützen.
4. Auswirkungen auf Strafverfahren
In Strafsachen erging eine Verordnung der Justizministerin, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 besondere Vorkehrungen in Strafsachen getroffen werden, (BGBl. II Nr. 113/2020, nachstehend „VO der BMJ“). Damit wurde ebenso wie in Zivilverfahren für prozessuale Fristen bis zum Ablauf des 30. April 2020 eine Unterbrechung angeordnet. In Haftsachen galt diese Unterbrechung nicht. Anders als in Zivilsachen wurde in Strafsachen keine umfassende Möglichkeit zur Abhaltung von Verhandlungen und Vernehmungen mittels Videokonferenz geschaffen.
Die aufgrund der COVID-19-Pandemie in der StPO vorgenommenen Änderungen greifen dennoch stark in die Grundrechte der Beschuldigten und Angeklagten ein:
Unter anderem wurde die bisher nicht bestehende Möglichkeit geschaffen, in Untersuchungshaft angehaltene Beschuldigte und Angeklagte nicht mehr persönlich zu Vernehmungen oder Haft- und Hauptverhandlungen vorzuführen, sondern sie lediglich mittels Videokonferenz vernehmen und teilnehmen zu lassen (§ 4 der VO der BMJ). Dabei handelt es sich jedoch um eine „Kann-Bestimmungen“, deren Anwendung im gebundenen Ermessen des jeweiligen Entscheidungsorgans liegt.
Mit Ausnahme von Haft- und sonstigen unaufschiebbaren Verfahren wurden Verhandlungen in Strafsachen überwiegend abberaumt oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit (zur Vermeidung großer Menschenzusammenkünfte) abgehalten. Das führte im Frühjahr 2020 (zumindest in Hauptverfahren) zu einem weitgehenden, wochenlangen Stillstand, der in den vergangenen Wochen und Monaten sukzessive abgebaut wurde. Der Gerichtsbetrieb wurde in der Zwischenzeit auch in Strafsachen – unter Einhaltung strenger Verhaltens- und Hygieneregeln – schrittweise hochgefahren. Der Zutritt zu Gerichten erfolgt zum Teil (zB beim Landesgericht für Strafsachen in Wien) nur nach Fiebermessung mittels berührungsloser Thermometer und Nichtvorliegen von Fieber (über 37,5 Grad). Hauptverhandlungen finden mit dem notwendigen Mindestabstand und eng anliegendem Mund-Nasen-Schutz statt.
Es bleibt daher – ebenso wie in Zivilsachen – abzuwarten, ob die Justizministerin für den zweiten Lockdown von ihrer Verordnungsermächtigung Gebrauch machen bzw was für die Zeit nach Ablauf des 31. Dezember 2020 geregelt wird.
5. Fazit
Der zweite Lockdown führt zwar nicht zu einer Schließung der Zivil- und Strafgerichte, ihr täglicher Betrieb wird durch verschiedene COVID-bedingte Faktoren aber beeinträchtigt. In anhängigen Verfahren ist daher mit Verzögerungen zu rechnen, die durch Flexibilität im Einzelfall und gute Vorbereitung mit Ihren Rechtsanwälten zumindest teilweise ausgeglichen werden können. Für die Zeit ab 1.1.2021 fehlen hingegen noch rechtliche Grundlagen, insbesondere um die schon recht gut etablierten „digitalen“ Verhandlungen in Zivilsachen beibehalten zu können. Hier wird die Politik noch vor dem Jahreswechsel gefordert sein.